Bündnisse und Kriegsängste

„Liebster Nicky, mit einer für mich ganz unerwarteten Plötzlichkeit sehe ich mich vor eine Entscheidung gestellt, die von lebenswichtiger Bedeutung für mein Land ist und die so weit reicht, daß ich die äußeren Konsequenzen nicht voraussehen kann.“ So begann Kaiser Wilhelm II. in einem etwas geschwollenen Ton seinen Brief vom 30. Mai 1898 an seinen Vetter, Zar Nikolaus II. von Russland. Er suchte bei ihm Rat, weil England Deutschland Bündnisgespräche angeboten hatte - trotz Englands bisherigen Absichten, kein Bündnis mit einer Kontinentalmacht einzugehen. Kaiser Wilhelm II. hatte nicht die Absicht, sich mit England zu verbünden, denn Deutschland war dabei, die eigene Flotte auszubauen und damit in Konkurrenz zur Seemacht England zu treten. Mit den Worten „Aber die Zeit drängt, deshalb antworte mir bald! Dein ergebener Freund Willy“ bekräftigte der Kaiser nochmals seine Ratlosigkeit in dieser Situation. Deutschland hat im Nachhinein zwar Verhandlungen mit England aufgenommen, diese aber 1901 beendet, da der Kaiser nicht bereit war, seine ehrgeizige Flottenaufrüstung aufzugeben. Zar Nikolaus dürfte übrigens etwas überrascht gewesen sein, dass sein „ergebener Freund Willy“ ausgerechnet bei ihm um Rat nachsuchte, denn gerade Freund Willy hatte ihm 1887 die Verlängerung eines gemeinsamen Bündnisvertrags verweigert, was schließlich zu einer Annäherung zwischen Russland und Frankreich führte.

Bündnisse zwischen Staaten hatten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert stets etwas Bedrohliches, denn sie waren als Schutzpakt gegen andere Staaten geschlossen worden. So haben Russland und Frankreich schon 1894 eine zunächst geheime Allianz geschlossen, da sich das bis dahin gute deutsch-russische Verhältnis abgekühlt hatte und Russland nicht ohne internationalen Partner sein wollte. Das international bis dahin isolierte Frankreich kam dafür in Frage. Mit diesem Bündnis trat die von Deutschland, insbesondere von Bismarck gefürchtete Zweifrontenlage ein, die bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges bestehen blieb bzw. dann zu einer Dreifrontenlage (England) erweitert wurde.

1902 schlossen England und Japan eine Allianz, die Japan 1904 zu einem Krieg gegen Russland nutzte. Um nicht in einen Krieg mit Russland hineingezogen zu werden, hatte England schon ab 1902 Gespräche mit Russlands Verbündeten Frankreich aufgenommen, die zwei Jahre später (1904) in der sogenannten „Entente cordiale“ mündeten, einem Abkommen, das die gegenseitigen Interessen in den afrikanischen Kolonien (Marokko und Ägypten) und die Nutzung des Suezkanals regeln, aber auch einen Krieg zwischen England und Frankreich bzw. zwischen England und Russland vermeiden sollte. Um Letzteren zu vermeiden, näherte England sich Russland an, was zur Folge hatte, dass beide Mächte ihre Interessensphären in Asien absteckten (Afghanistan, Persien), eine Annäherung Russlands und Deutschlands verhinderte und im Vertrag von St. Petersburg (1907) zu einem Dreierbündnis mit Frankreich führte („Triple Entente“).

Als Gegenpol zur Triple Entente fungierten die Mittelmächte, ein Militärbündnis zwischen dem deutschen Kaiserreich und Österreich-Ungarn, dessen Grundlagen schon nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 gelegt wurden und zu dem Russland ursprünglich auch gehört hatte. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges traten das Osmanische Reich und Bulgarien dem Bündnis noch bei.

Diese Bündnispolitik glich einem Schachspiel, in dem jeder Beteiligte seine eigenen Interessen durch möglichst geschickte Allianzen zu wahren suchte. Die Angst, in einem möglichen Krieg ohne Hilfe dazustehen, bzw. die Kriegsangst an sich beflügelte natürlich solche Bündnisse. Letztlich förderten sie jedoch das, was sie zu verhindern suchten: den Krieg.