Im Vorfeld des Krieges: Alltag zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Seit dem Wiener Kongress (1815) gehörte die heutige Deutschsprachige Gemeinschaft (außer Kelmis, das dem damals neutralen Gebiet von Moresnet entsprach), zum Königreich Preußen (bis 1871) bzw. zum Deutschen Kaiserreich (1871-1918). Im Westen grenzte Preußen bzw. das Deutsche Reich an das seit 1830 unabhängige Königreich Belgien.

Die beiden Länder kannten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine wirtschaftliche Blütezeit, verbunden mit einem Bevölkerungsanstieg. Im Kaiserreich wuchs die Bevölkerung von 41 Mio. im Jahre 1871 auf 65 Mio. im Jahre 1910; in Belgien betrug die Zahl der Einwohner um 1870 rund 5 Mio.; in Jahre 1910 zählte das Königreich 7,4 Mio. Einwohner.

Dieser Anstieg erklärt sich vor allem durch verbesserte hygienische und medizinische Bedingungen, aber auch aufgrund der Tatsache, dass die Wirtschaft genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stellen konnte. Als Auswirkung dieses Bevölkerungsanstiegs entwickelte sich das Land von einem landwirtschaftlich geprägten zu einem modernen Industriestaat mit zunehmender Verstädterung. Eisenbahnbau und Schwerindustrie (auch Rüstungsindustrie) sowie die chemische Industrie und die aufkommende Elektroindustrie beflügelten den Fortschritt.

Das Pressewesen, insbesondere die Tageszeitungen, veränderte die politische Kultur, die bis dahin zumeist Sache einer Elite war. Alle Bevölkerungsschichten interessierten sich in zunehmendem Maße für das politische Geschehen, was sich auch in der Wahlbeteiligung ausdrückte (nur Männer ab 25 Jahren durften wählen): 1871 betrug diese 51 %; im Jahre 1912 waren es 84,9 %.

Wenngleich die beiden benachbarten Staaten ähnliche Entwicklungen kannten, so verhinderte die Grenze einen zwanglosen Austausch. Die Grenze, die mit den heute noch bestehenden Steinen markiert war, wurde bewacht - ab und zu wurden auch Schmuggler erwischt und sogar erschossen - dennoch war sie dem zwischenstaatlichen Handel grundsätzlich nicht abträglich: Irische Dauerbrand­öfen, schwefelsaures Ammoniak, Fabrikreste in Kammgarnen und ein großes Farbensortiment wurden beispielsweise in hiesigen Anzeigen angeboten.

Der Alltag in diesem Grenzgebiet ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein recht beschaulicher gewesen, denn hüben wie drüben herrschte Frieden und die Menschen konnten ihren Beschäftigungen nachgehen. In den 1880er Jahren hatte es noch Missernten und Hungersnöte gegeben, die viele zur Auswanderung zwangen, doch schon in den 1890er Jahren hatte die Eisenbahn für wirtschaftlichen Aufschwung gesorgt und die Notjahre vergessen lassen. Auch Bismarcks Kulturkampfgesetze, die die Kirche und die Gläubigen sowie die sprachlichen Minderheiten, wie z.B. die preußischen Wallonen um Malmedy, in arge Bedrängnis brachten, gehörten zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon seit über einem Jahrzehnt der Vergangenheit an und hatten es nicht vermocht, die Treue der Menschen zu „Kaiser und Vaterland“ zu erschüttern. Im Gegenteil: vaterländische Frauenvereine, Kriegervereine, Jungmännervereine usw. waren Ausdruck eines allenthalben präsenten patriotischen Nationalismus, der sich weniger gegen den belgischen Nachbarn als vielmehr gegen den „Erbfeind“ Frankreich richtete („Sedanfeiern“), der hierzulande jedoch aufgrund fehlender Nachbarschaft wohl im Alltag kaum erfahrbar war. Zum belgischen Nachbarn herrschte indes ein ungezwungenes Verhältnis.